Europäische Wildkatze: Der Sprung zurück ins Leben

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Ãœber Umwege erreichte uns am 15.01.15 ein Anruf, dass in einer Bonner Tierarztpraxis vermutlich eine europäische Wildkatze sitzen würde, die Opfer des Straßenverkehrs geworden war.  Man bat uns, mit der tierärztlichen Praxis Kontakt aufzunehmen, das Tier zu identifizieren und gegebenenfalls stationär aufzunehmen.

In der Praxis stellte sich schnell heraus, dass es sich in der Tat um eine echte Wildkatze handelte, die wirklich Glück im Unglück hatte. Die Odyssee, die der junge Kuder (Kater) bis hier hin zurück gelegt hatte, möchte ich überhaupt nicht erwähnen. Der Zustand bei Eintreffen in der Bonner Tierarztpraxis war mäßig. Massiver Ohrmilben- und Spulwurmbefall, zwei Frakturen, ein Gewicht von 1,8 kg. Dr. Selzer, Fachtierarzt für Chirurgie, hatte den Kuder umgehend operiert und gerettet, was zu retten war.

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Ein Abriss am Ellenbogen vorne links und eine bereits weit auseinander klaffende Oberschenkelfraktur hinten links galt es wieder in Form zu bringen und zu stabilisieren. Eine aufwändige Geschichte wegen der langen Operation für den Einsatz von Implantaten. Aber Dr. Selzer hat weder an seiner Zeit noch am Material gespart.

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Da die Dauer der Narkose riskant war, wurde die Naht auf dem Oberschenkel mit Klammern geschlossen und nicht wie die Naht auf dem Vorderbein mit Faden vernäht. Der Kuder wachte recht schnell auf und nahm am darauffolgenden Tag bereits etwas Futter auf. Am 16.01.15 nachmittags wurde er dann hier auf Station in einem separaten, gut temperierten  Raum in einer geräumigen Gitterbox untergebracht – schließlich war es Winter und der Kuder annähernd zur Hälfte rasiert.

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Sechs Wochen Aufenthalt standen ihm bevor – und mir als Pflegerin auch. Ein echter Wildkater ist schon etwas Besonderes. Abgesehen vom permanenten Fauchen, Spucken und Knurren ist die Schlagkraft und Schnelligkeit eines verletzten Wildkaters nicht annähernd mit der einer gesunden Hauskatze zu vergleichen. Zum Glück nahm der Kuder recht schnell das Futter an, so dass wir ihn noch fünf Tage mit einem Antibiotikum versorgen konnten. Was das Futter betraf, hat mich der kleine Kerl echte Nerven gekostet. Nicht, dass er sich für etwas Bestimmtes entschieden hätte, stattdessen heute so, morgen so und übermorgen nochmal anders. Mindestens fünf verschiedene Futtermittel standen  dem Herrn dann jeweils über Nacht zur Verfügung. Tagsüber nahm er kaum Futter auf. An Futter reichten ich ihm Hühnerherzen, Rinderherz, Hühnermägen, Mäuse, Küken, gewolftes Kaninchen, Animonda Kitten Geflügelcoctail (Naßfutter), Reh-, bzw. Hirschfleisch.

Nach 12 Tagen musste der Kuder wieder in die Tierarztpraxis, die Klammern sollten gezogen werden. Inzwischen hatte er etwas zugenommen, sowohl an Gewicht, als auch an Fitness. Das Vorderbein setzte er bereits wieder gut ein, das Hinterbein nur auf, ohne es zu belasten. Da sich der Kuder nicht anfassen lassen wollte – und ich auch gerne darauf verzichtete – habe ich ihn vorsichtig aus der Gitterbox in eine Transportbox steigen lassen. Wenn man als Pfleger eines Wildkätzchens etwas schnell lernt, dann ist es absolute Ruhe, langsame Bewegungen, eine leise, ruhige Stimme und Geduld. Wobei ich ehrlich sagen muss: Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Und etwas, was noch ganz wichtig ist: Zeit. Nachdem der Kuder also in Zeitlupentempo nach einer gefühlten Ewigkeit in die Transportbox eingestiegen war, wurde die Box komplett abgedeckt, so dass er dunkel saß. Zwangsläufig wurde der Kuder von Dr. Selzer erneut sediert. Es wurde schnell eine Kontrollaufnahme der operierten Frakturen gemacht.

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Gleichzeitig hatten wir die Gelegenheit genutzt, um ein wenig Blut und Haare zu entnehmen für die genetische Bestimmung. Im Anschluss wurden noch die Klammern gezogen. Die Wundheilung als solche war zufriedenstellend. Die Fraktur des Vorderbeins stellte sich gut dar. Auch bei der Fraktur des Hinterbeines war bereits eine deutliche Kallus-Bildung zu erkennen.

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Der Kuder  vertrug die Sedierung gut und wachte deutlich schneller auf, als wir es von anderen Wildtieren oder von Haustieren gewöhnt sind. Wir beeilten uns also, den Kuder wieder in sein Quartier zu bringen. Er konnte umgehend vollkommen selbständig aus der Transportbox in seinen Käfig umsteigen. In den nächsten zwei Tagen hat der Kuder kaum Futter aufgenommen, wurde aber zunehmen unruhig in seinem Käfig. Dann verweigerte er vollkommen die Nahrungsaufnahme. Spätestens an dieser Stelle verfällt jeder Pfleger in eine Krise. Ein Wildtier, halbwüchsig oder erwachsen, das sich nicht anfassen lässt, kann man auch nicht füttern. Öfter nachschauen, ob er denn nun gefressen hat, ist kontraproduktiv. Gutes Zureden hilft allenfalls einem selber. Dazu kommt , dass der Kuder auch meine Anspannung mit vermehrtem Fauchen quittierte. Am zweiten Tag der Futterverweigerung entschlossen wir uns, dem Kuder mehr Bewegung zu ermöglichen, auf die Gefahr hin, dass die Frakturen noch nicht stabil genug waren – oder nun langsamer verheilen würden. Wir stellten ihm einen ganzen Raum zur Verfügung – Innenhaltung – mit verschiedenen Versteckmöglichkeiten, glatten Wänden und möglichst ebenen Strukturen.

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Es galt noch mindestens vier Wochen durchzuhalten. Für eine Außenhaltung war der Kuder viel zu großflächig rasiert, klettern und springen sollte er nach Möglichkeit auch nicht. Um den Stress so gering wie möglich zu halten, wurde der Kuder per Kamera überwacht. Nach wie vor bekam der Kuder täglich morgens und abends sein komplettes Futter-Menü angeboten. Nach einem weiteren Tag nahm er endlich wieder Futter auf. Die OP-Wunden blieben unauffällig, obwohl sich nach gut zwei weiteren Wochen hier und da Tropfen auf dem Boden fanden, die aus Blut und Wundsekret bestanden. Auf der Kamera konnten wir erkennen, dass sich der Nagel, der den Oberschenkelknochen stabilisierte, in Richtung Hüftgelenk aus dem Knochen heraus schob und die Haut durchstoßen hatte. Nach Rücksprache mit Dr. Selzer beließen wir es aber dabei, da ein erneutes Einfangen, ein erneuter Transport und eine weitere Sedierung mit erheblicher Stress verbunden gewesen wäre. Die OP-Wunde sah weiterhin unauffällig aus.

Der Kuder strapazierte dennoch auch weiterhin meine Geduld. Abends reichte man das gesamte Menü. Dann sass man stundenlang vor dem Bildschirm: nichts. Der erste Blick nach dem Aufwachen galt wieder dem Bildschirm: Was und wie viel hatte der Kater gefressen? Knapp fünf Wochen, in denen ich mehr als einmal kurz vor der Verzweiflung stand. Aber es gab auch aufregende Momente: Der Kuder hatte sich einen Schlafplatz genau entgegengesetzt zur Tür ausgesucht. Schon allein das Annähern an seinen Schlafplatz quittierte er mit einem tiefen Knurren. Unterschritt man die Distanz von ca. zwei Metern, begann er bereits heftig zu fauchen und zu spucken. Ganz ungünstig, wenn man bereits im Raum stand, die Tür hinter sich geschlossen hatte und das Knurren eben genau nicht aus seiner Schlaf-Butze kam, sondern direkt hinter mir ertönte. Ein Moment, in dem einem kurzfristig das Blut in den Adern gefriert, man sich zwingen muss, sich nicht umzudrehen und im Zeitlupentempo versucht, mehr Distanz zwischen sich und den Kuder zu bringen. Man möchte sich einfach nicht mit einem Halbwüchsigen anlegen. Auch nicht, wenn er zwei lädierte Beine hat! Wobei er inzwischen das Vorderbein voll belastete, das Hinterbein gut einsetzte, aber noch deutlich hinkte. Es war zu vermuten, dass das linke Hinterbein etwas verkürzt bleiben würde. Mit einer solch leichten Behinderung stand jedoch einer Auswilderung nichts im Wege. Da es sich bei dem Kuder noch um ein Jungtier handelte, stand noch einmal ein Eingriff bevor: die Implantate mussten wieder entfernt werden, das Knochenwachstum war noch in vollem Gange.

Anfang März 2015 war es dann endlich soweit. noch einmal musste der Wildkater also in eine Transportbox. Dr. Selzer sedierte den Kuder erneut und entfernte sowohl am Vorder- als auch am Hinterbein die eingesetzten Implantate. Die Narkose war sehr kurz angesetzt und reichte gerade, um ihn nach der Operation zurück zur Station zu bringen. Auch diesmal erholte sich der Kater sehr schnell von der Sedierung. Es dauerte jedoch nicht lang und der Kuder verweigerte wiedermal vollständig die Futteraufnahme. Obwohl er nach wie vor großflächig kahl war, die Temperaturen immer noch recht frisch und wir uns noch nicht sicher waren, ob die Frakturen wirklich hielten, stand der Umzug ins Außengehege an. Natürlich auch in der Hoffnung, dass er wieder Nahrung aufnahm. Kurz darauf kam auch die Bestätigung des Senckenberg Institutes, dass es sich bei unserem Patienten tatsächlich um eine europäische Wildkatze handelte, was ich allerdings zu keinem Zeitpunkt bezweifelt hatte. Im Außengehege zeigte sich der Kuder überraschend gut in der Bewegung. Endlich fing das Fell an, nachzuwachsen.

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Am 24. April war es dann soweit: der Kuder sollte entlassen werden. Mit einem Gewicht von 3,2 Kilo hatte sich der Kleine trotz des Stresses zu einem durchaus ansehnlichen Jung-Kater entwickelt. Wir hatten uns inzwischen ganz gut arrangiert,  der Kuder ließ sich nicht lange bitten und ging ein letztes Mal in die Transportbox. Damit er nicht direkt große Strassen zu überqueren hatte, wählten wir einen Bereich, dem ein großes zusammenhängendes Waldstück angeschlossen ist, gleichzeitig jedoch Wiesen und Weideland zur Mäusejagd zur Verfügung standen. Beim Verlassen der Transportbox zeigte der Kuder keinerlei Beeinträchtigung mehr und suchte sofort in großen Sprüngen die Deckung auf.

Ein Gast, dem wir gerne „Lebe wohl“ sagten – und einer der schönsten Momente für alle Beteiligten.

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Diese europäische Wildkatze war der erste Pflegling dieser Art für uns. Als Pflegling ist sie in vieler Hinsicht etwas Besonderes: unter den Raubsäugern ist die Wildkatze der stressempfindlichste, unkooperativste und anstrengendste  Pflegling, den ich bisher betreut habe. Die Ansprüche an die Unterbringung, die medizinische Versorgung, das „Handling“  und natürlich auch die Nahrung sind enorm.

An dieser Stelle möchten wir uns bei Dr. Selzer aus Bonn-Ippendorf bedanken, der nicht nur zwei komplizierte Brüche chirurgisch aufwändig behandelt, sondern  auch auf eine Kostenerstattung komplett verzichtet. Ein solcher Patient ist – abgesehen von der medizinischen Behandlung – deutlich kostenintensiver als ein Fuchs oder ein Steinmarder.

Auch möchte ich Manfred Trinzen ganz herzlich danken, der uns diesen Patienten anvertraut, uns in jeder Hinsicht beraten und immer ein offenes Ohr für meine Pfleger-Krisen hatte – und zwar rund um die Uhr!

Fotosnachweise:
Dr. Selzer (Bonn), Retscheider Hof, Andrea Hergersberg (www.augenblickwerk.com)